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1982 Gespräch mit Drehbuchautor und Regisseur Oualid Mouaness

Zu Beginn des Films erwähnen Sie, dass er auf realen Begebenheiten basiert. Wie viel von dem, was wir im Film sehen, ist wahr und was ist der Ursprung der Geschichte?
Der Film handelt von meinem letzten Schultag 1982, als die israelische Invasion in Beirut erreichte. Ich war zehn. Ich erinnere mich, dass an diesem Tag, als ich und meine Brüder von der Schule nach Hause kamen, mein jüngerer Bruder und ich auf dem Balkon standen und wir ehrfürchtig und ungläubig zu den Luftkämpfen hochschauten. Israelische und syrische Flugzeuge schossen aufeinander. Mein Bruder, der damals sechs Jahre alt war, erkannte, was los war und verlor völlig den Verstand. Er rannte zurück ins Haus und fing an, uns zu zu schreien, dass wir reinkommen sollten. Er dachte, wenn ein Flugzeug getroffen wird, würde es uns auf den Kopf fallen. Diesen Moment habe ich nie vergessen. Er fungierte als Tor zu den anderen Ereignissen dieses Tages, damals im Libanon. Er zementierte Erinnerungen, die von Zeit zu Zeit auftauchten. Mein Kopf war wie ein Fotoalbum des Chaos: Eltern kamen und fuhren mit ihren Kindern ab; tränenüberströmte KlassenkameradInnen; SchülerInnen, die aus dem Unterricht geholt werden; das Gewirr von Autos, die sich gegenseitig sowie die Ein- und Ausgänge der Schule blockieren. Was an anderen Tagen ein organisierter Fahrzeugstrom war ... wirkte wie ein Hühnerstall mit einem Himmel in dem es vor Kampfflugzeugen wimmelte.

Es dauerte ewig, bis wir an diesem Tag nach Hause kamen, aber wir kamen an. Es war der erste Tag, an dem ich Krieg erlebte. Der Film ist meine Erinnerung an den Tag.

Die Wahl einer englischen Mittelklasse-Schule im Libanon ist eher ungewöhnlich; im Gegensatz zu den in libanesischen Filmen üblichen arabischen und französischen Schulen. Warum haben Sie diese Wahl getroffen?
Die Schule, die ich damals im Libanon besuchte, war eine Quäkerschule, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. Sie war anglophon im Gegensatz zu frankophon. Meine Eltern hatten beschlossen, dass wir Englisch statt Französisch lernen würden, da Liberia unsere zweite Heimat war. Es war eine natürliche Wahl für mich, obwohl es die allgemein angenommene Vorstellung in Frage stellt, dass man im Libanon eher Französisch als Englisch lernt. Der Libanon ist dreisprachig, die meisten Menschen können sich gut in einer zweiten und möglicherweise einer dritten Sprache verständigen.

Ich wollte, dass der Film so realistisch und so wahrheitsgemäß wie möglich ist. Er musste die Welt, die ich kannte und in der ich aufgewachsen bin genau widerspiegeln. Bildung im Libanon ist für alle Teile und Schichten der Gesellschaft sehr wichtig. Es ist eine Gesellschaft, die Bildung über fast alles schätzt. Der Libanon war damals ein Land mit einer sehr breiten Mittelschicht. Die Mittelschicht begann später in den 1980er und frühen 1990er Jahren zu schrumpfen, als viele Menschen ihr Vermögen aufgrund der Währungsabwertung verloren. Die libanesische Mittelstandsrealität, wie sie sich in diesem Film widerspiegelt, wird in unserem Kino selten gezeigt.

Der Bürgerkrieg ist seit 30 Jahren das Hauptthema des libanesischen Kinos. Hatten Sie Bedenken, sich auf diesem Terrain zu bewegen?
Obwohl viele Filme über Aspekte des libanesischen Krieges und seiner Themen gedreht wurden, glaube ich, dass die libanesische Menschlichkeit im Kontext des Krieges nicht gründlich genug erforscht wurde. Dieser Film unterscheidet sich dadurch, dass er die Sichtweise der einfachen Leute darstellt; Menschen, die nicht direkt an der Gewalt beteiligt, sondern ihr ausgeliefert waren. In diesem Sinne könnte diese Geschichte überall und jederzeit spielen; an jedem Ort, der einem Krieg ausgesetzt ist.

Es gibt einen sparsamen, eleganten kinematografischen Ansatz für die Geschichte, auch wenn er durch Einsprengsel von Magischem Realismus unterbrochen wird. Erzählen Sie uns mehr über die visuellen Absichten des Films.

Ich wollte Momente im Film, in denen die Grenze zwischen Realität und Imagination verschwimmt, insbesondere wenn die Realität unerträglich wird. Der Film ist jedoch von Naturalismus durchdrungen; ein Naturalismus mit einem Tempo, das vermittelt, wie es sich anfühlt, während eines Prüfungstages in der Schule zu sein; dieses vertraute Gefühl der Stille, eine Stille, die jeden Ton ein wenig lauter erscheinen lässt – Normalität hat eine schöne Banalität. Im Film wird diese Normalität gebrochen. Er entwickelt sich zu einem Ort, an dem nichts normal ist – es gibt eine dunkle und doch auch eine fantasievolle Seite.

Ein Krieg am Himmel ist für jeden surreal, egal ob Kind oder Erwachsener. Es fühlt sich seltsam unwirklich und faszinierend an, ihn zu betrachten. In diesem Film wollte ich die Grenzen zwischen dem Faszinierenden und dem Schrecklichen verwischen.

Wenn du ein Kind bist, ist deine Fantasie im freien Lauf und du findest ständig Möglichkeiten, dich auszudrücken, was sowohl zurückhaltend oder auch direkt sein kann. Am Ende des Films verspüren wir das Bedürfnis nach emotionaler Befreiung. Eine Art Befreiung von der bevorstehenden Belagerung. Wir alle wollen einen Ausweg aus dieser Erstickung, und der einzig denkbare Ausweg ist die Vorstellungskraft. Was also, wenn die Fantasie des Kindes zum Leben erwacht, um den Tag zu retten? In diesem Film besteht Wissams Fantasie darin, Beirut zu retten. Was wäre dazu nötig? Wie viel davon ist Traum?

Ich war fasziniert von einem Anime-Roboter (Grendizer), der auf Arabisch synchronisiert war, als ich ein Kind im Libanon war. Wir haben jeden Mittwochabend auf die Sendung gewartet. Dieser Charakter hat mich ebenso beeinflusst wie Wissam. Er spielt sich in Wissams Vorstellungskraft genauso ab wie in meiner. Ich wollte Anime und die Offenheit der kindlichen Fantasie würdigen und respektieren. In diesem Film habe ich mir gewagt mir vorzustellen, was nicht real, aber was ein Wunsch sein kann.
Wenn es einen Ort gibt, an dem man sich Dinge vorstellen kann, dann im Kino; daher die Überraschung am Ende.

Nadine Labaki gehört zu den größten Publikumsmagneten der arabischen Welt, wie kam es dazu, dass Sie mit ihr zusammengearbeitet haben?

Dieser Film ist in erster Linie ein Ensemblefilm. Bei meiner Auswahl der DarstellerInnen wollte ich eine vielfältige libanesische Besetzung, die die Bedeutung und die Emotionen der Geschichte wahrheitsgetreu trägt und mit der sich das libanesische Publikum identifizieren kann. Sie musste unprofessionelle Kinder-LaiendarstellerInnen und starke professionelle SchauspielerInnen zusammenbringen.

Nadine gehörte zu den ersten Schauspielerinnen, die ich für die Rolle der Yasmine kontaktierte. Wir hatten uns ein paar Jahre zuvor kennengelernt und dann 2014 wieder Kontakt aufgenommen und die gemeinsame Arbeit an diesem Film diskutiert. Es gibt etwas an ihrem Wesen, das eine Welt in sich zu tragen scheint. Es ist unausgesprochen, weich, mütterlich und doch so kraftvoll. Es ist diese Art von Energie, die man nicht einfach definieren kann. Ich hatte es schon bei unserem ersten Gespräch gespürt. Die Zusammenarbeit mit Nadine war ein Vergnügen. Sie ist so liebenswürdig und präzise als Schauspielerin. Sie hat meine Arbeitsweise verstanden und ihr vertraut. Sie hat dieser Rolle eine scheinbar mühelose Tiefe verliehen.

Wie haben Sie die sehr unterschiedlichen erwachsenen und kindlichen Sichtweisen des Films in Einklang gebracht?

Das war hart. Der Film beschreitet zwei Welten: eine Kinderwelt und eine Erwachsenenwelt. Wo und wie sie sich kreuzen, spielte in dieser Erzählung eine große Rolle. Am wichtigsten war, dass ich die turbulente gesellschaftspolitische Geschichte und die Geopolitik des Libanon und der Region in einer Zeit, in der Unterschiede der gegnerischen Fraktionen im Land als unvereinbar wahrgenommen wurden, humanisieren musste. Als Autor und Regisseur musste ich die Insignien der politischen Voreingenommenheit überwinden, verstehend, dass jede Seite in jedem Krieg glaubt, sie sei im recht - ich habe mich selbst verpflichtet, dies als menschliche Tatsache zu respektieren. Was in diesem Fall geholfen hat, war meine pluralistische Schulbildung. Die Schule, die ich besuchte, hatte eine vielfältige SchülerInnenschaft, die damals alle Teile der libanesischen Gesellschaft vereinte, was selten ist. Es ist etwas, dessen sich Erwachsene bewusst sind, Kinder in diesem Alter jedoch nicht.

Einerseits ist dies ein Film über Geopolitik und wie sie Menschen spaltet und andererseits ist es ein Coming-of-Age-Film über Liebe, die dem trotzt. Ich wollte eine lebensbejahende Ode an die Widerstandsfähigkeit der LibanesInnen schreiben, egal welcher Fraktion oder Gruppe sie angehören, und ich wollte die verfeindeten politischen Seiten nicht beurteilen, sondern so offen wie möglich präsentieren.

Für die Arbeit an diesem Film waren mir vier Filme, die mich in ihrem tiefen Verständnis für die Reife von Kindern beeindruckt haben, Referenz: Der erste und meiner Empfindsamkeit am ähnlichsten ist Abbas Kiarostamis „Wo ist das Haus meines Freundes?“ ein verstörend ehrlicher Film über ein Kind. Und im Kontext des Krieges haben mich „Auf Wiedersehen, Kinder“, „Das Leben ist schön“ und „Cinema Paradiso“ unendlich bewegt.

Mir ist klar, dass Kinder in ihrer kompletten Welt leben und einander gleich sind. Die Regeln und Mechaniken ihrer Welt sind in sich abgeschlossen. Ich wollte sicherstellen, dass meine Kamera diese Tatsache respektiert, sich emotional und verhaltensmäßig mit ihnen bewegt. Das Wichtigste für mich beim Filmen war, dass mein Standpunkt als Regisseur ihre Welt nicht behindert oder auf sie herabschaut, sondern sie beobachtet und unbefangen darin lebt. Ich wollte sie mit einem gleichberechtigten Auge beobachten, nicht mit dem eines Erwachsenen.

Im Kino gibt es die Freiheit zu spielen, zu imaginieren, und wir haben das Privileg, Geschichte ungeschehen zu machen oder neu zu erfinden. Ich wollte aus der Invasion von 1982 heraus, raus aus diesem Krieg, raus aus all dem Entsetzlichen. Die Vorstellungskraft von Wissam in diesem Film führt uns an einen Ort, der sagt, was wäre, wenn es einfach nicht wäre… Was wäre, wenn der Krieg nicht wäre?

Darüber hinaus erforderte der Umgang mit einer solch feindseligen Zeit im Libanon und der Geschichte des Nahen Ostens auf der Leinwand eine Wahrheit in der historischen Präzision der Lebenswelt. Das war von größter Bedeutung, da es zu einem tieferen Verständnis der Zeit und ihrer Anfeindungen beiträgt. Es sind die subtilen Details, die mitschwingen und zum Nachdenken anregen. Aufgrund unserer empfindlichen geopolitischen Situation haben es nur wenige gewagt, eine offene libanesische Perspektive auf diese Zeit in der Geschichte des Landes anzugehen. Der Kern der Mikrokonflikte im Libanon ist ein Spiegelbild seines makro-geopolitischen Konflikts. Es ist die Geopolitik, die die Spaltungen in der libanesischen Gesellschaft verursacht. Daher blieb uns keine andere Wahl, als mit solcher Genauigkeit zu arbeiten, so kühn es auch sein mag. Es war wunderbar, dass mein detailversessener Produktionsdesigner nach zeitgetreuer Ausstattung suchte, von Radiergummis und Bleistiften bis hin zu den Papieren, die die SchülerInnen verwenden, historischen Karten, Lehrbüchern und sogar Prüfungen, ihren Inhalten und Layouts. Alles …

Ich hoffe, dass dieser Film einen dringend benötigten Diskurs über das, was 1982 passiert ist, anregt und deutlich macht, dass dies nicht noch einmal passieren sollte. Er gibt den libanesischen Menschen, die noch gehört werden müssen, eine Stimme. Eine laute Ablehnung von Krieg als Mittel zur Beendigung von Konflikten.

Verschriftlichtes und editiertes Gespräch des Filmkritikers Joseph Fahim mit Oualid Mouaness nach einer online-Filmvorführung bei Al-Bustan. Seeds of Culture. Bearbeitung durch die ProduzentInnen für das englischsprachige Presseheft, Übersetzung durch mec film. Das ganze Gespräch im englischen Original (47 min) beim Veranstalter oder bei youtube