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Pressestimmen / Interview mit Mohamad Malas / Interview mit Schnittmeister Kais al-Zubaidi

Pressestimmen
Erinnerungen gegen politische Phrasen
Der ‘Goldene Tanit, ging an den einzigen wirklich neuen Film des Festivals (von Karthago. A.d.R.) an den syrischen Beitrag Al LEIL. Wie in seinem ersten Film Träume von der Stadt (Forum 1985. A.d.R.) über das Damaskus der 5Oer Jahre dienen Mohamed Malas auch hier Kindheitserinnerungen zur Rekonstruktion einer Epoche. Diesmal der 3Oer und 4Oer Jahre. Das Projekt ist aber anspruchsvoller und komplexer. Mit Hilfe der nachtäglich illustrierten Erzählungen seiner Mutter und eigener Bilder aus frühester Kindheit rekonstruiert der fiktive Regisseur die patriotische Version von Ende seines Vaters, die er sich als junger Mann zurechtgelegt hat: der Vater sei im Kampf gegen die Juden verschollen. Aus den verwobenen Zeitschichten vordem äußerst tiefenscharfen Bilder, die auch optisch mimen den Durchblick auf anderes symbolisieren, Details einer viel verwickelteren Biographie zutage, in der Geschichte von unten unwiderlegbar, die von oben und die individuelle Lebenslüge die nationale gleich mit entlarvt. Zwar hat der Vater durchaus zweimal in Palästina gekämpft. Aber nur die Existenz gebracht, ihm schließlich das Herz gebrochen hat und ihn die Niedertracht im eigenen land. Als mit der Unabhängigkeit Syriens die Befreiung Palästinas zur nationalen Sache erklärt wird, tatsachlich aber nur der Mobilisierung der Massen und als diskursives Versatzstück im innerpolitischen Machtkampf dient, durchschaut dies der bewahrte Kämpfer als hohle Phrase. Er stirbt an den Folgen einer gesundheitsschädigenden Behandlung durch den Geheimdienst. Ganz nebenbei ist der Film auch eine Hommage auf die Tscherkessen und die von ihnen zur Blüte gebrachte Stadt Kuneitra. Vor der Abtrennung Palästinas zentraler Verkehrsknotenpunkt Südsyriens, der nach 1967 von den Israelis fast vollständig zerstört wurde. (film-dienst, Köln, Nr. 1, 1993)

Orientalische Metaphern
Zu Recht ging der große Preis des Festivals (...) an den syrischen Film DIE NACHT von Mohamed Malas. In Al LEIL — so der Originaltitel — erzählt Malas die Geschichte seines Vaters, der für ein arabisches Palästina und für die Selbstbestimmung der Palästinenser gekämpft hat und umgebracht wurde. Malas verbindet seine Kindheitserinnerungen und das kollektive Gedächtnis seines Volkes zu einer Kinogeschichte, mit der das Publikum aus dem Individuellen auf das Allgemeine schließen kann. Malas’ Film ist ohne Zweifel eine Entdeckung und ein gutes Beispiel für die visuelle Kraft des Filmschaffens aus den islamischen Ländern des Orients. Dies belegen vor allem die Bildfolgen am Anfang und am Ende des Films: Eine knapp geschnittene Reihe von orientalischen Metaphern skizziert den Kern von Malas’ Aussage und macht uns zugleich mit den Bildzeichen dieser Kultur vertraut. Neue Zürcher Zeitung, 28. Januar 1993)

Fremde Welt
In diesem Film geht um Syrien der 30er und 40er Jahre - aber nicht im Stil eines Geschichtsunterrichtes. Ein fiktiver Regisseur erforscht die Geschichte seines Vaters, der für ein arabisches Palästina und die Unabhängigkeit der Palästinenser gekämpft hat und umgebracht wurde. Doch die Geschichte ist bei weitem nicht so einfach - die Wahrheit kommt durch die Dekonstruktion dieser Version ans Licht; die Erzählungen der Mutter und eigenen Kindheitserinnerungen helfen dem Regisseur den Schleier jener Jahre zu entfernen. Die patriotische Version, nach der der Vater im Krieg von den Israelis getötet wurde, ist eine Illusion, ein Wunschtraum. Der Vater hatte zwar in Palästina gekämpft , doch für seinen Tod war der syrische Geheimdienst verantwortlich, dem die Befreiung Palästinas als nationale Sache, nur als Vorwand im innenpolitischen Machtkampf diente. Dieser in Wort und Schrift sehr komplizierten Darstellung stehen die Bilder des Films selbst gegenüber: die fein gewirkte Schönheit der Komposition wird durch eine Reihe von visuellen Metaphern unterstützt, die auf den bildhaften Reichtum islamischer Kultur verweisen. Malas hat mit diesem Film bewiesen, daß eine andere Kultur, die während er seiner Ausbildungsjahre kennenlernte, seinen eigenen filmisch die Hand gereicht hat: Malas hat in Moskau studiert. (Berlinale Journal, 43. Internationale Filmfestspiele Berlin, 15.2.1993)

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Interview mit Mohamed Malas
Frage: In Ihrem Film begegnen sich eine ganz private, manchmal sogar intime Welt und die Geschichte. Was ist die treibende Kraft dieses Films? Ihr Leben, Ihre Kindheit oder etwas eher Politisches, an Objekten gebundenes?

M.M.: In einem Land wie Syrien sind Geschichte und privates Leben eng verflochten. In einem unterentwickelten Land wie unserem prallt — wie in jedem unterentwickelten Land — die innere, private Sphäre des Individuums, wann immer sie zum Vorschein zu kommen versucht, auf die Realität und die geschichtliche und soziale Dimension des Landes. Es ist schlicht unmöglich, seine Privatzeit oder seine persönlichen Erinnerungen in einer totalen Isolation, an der umgebenden Realität vorbei zu leben. Deshalb hafte ich immer eine Vorliebe für persönliche Themen. Tatsachlich fand ich mich jedes Mal, wenn ich es privates, persönliches Thema gewählt hatte, vor genau dieses Problem gestellt: nämlich augenblicklich etwas zu entdecken, was mir unbegreiflich scheint und doch zur politischen Realität meines Landes gehört. Aus diesem Grunde beschäftige ich mich nicht mit Themen die diese Verflochtenheit reflektieren. Wenn diese Verflochtenheit des privaten mit dem sozialen und politischen Leben bereits in meinem ersten Film präsent war, geschah das vielleicht mit bisschen zufällig. Dagegen hatte ich im zweiten Film meinen eigenen, spezifischen Ausdruck gefunden; d.h. ich hob auf Anhieb diese Verflochtenheit von Innen und Außen hervor. Als ich den Filmrealisiert hatte, habe ich auf diese Art am besten ‘funktioniere’, d. h. mit den Problemen, war ich auf eine Art befriedigt: ich hatte meine eigene, von niemandem mir aufgedrängte Art gefunden, die Welt zu sehen. Gleichzeitig bemühte ich mich mit aller Ernsthaftigkeit darum, eine persönliche Sprache zu finden, um mich auch mitzuteilen. Inzwischen haben andere syrische Filmemacher den Mut, meinem Beispiel zu folgen, weil sie erkannt haben, dass es sich dabei um einen entwicklungsfähigen Weg des Schreibens und des Umgehens mit Realität handelt. Auch sie haben sich bemüht, sich in einer eigenen Sprache auszudrucken. Dadurch wird es allmählich möglich, von Dingen zu sprechen, die man kennt, die man erlebt hat, und diese Dimension des Erlebten in den Vordergrund zu rücken, indem man sie in Verbindung mit aktuellen Ereignissen bringt. (...) So kann auch das syrische Publikum zunehmend seine eigene Fähigkeit, über Dinge von historischer Bedeutung und zugleich aktuellem Bezug zu sprechen, entdecken. Der politische Aspekt wird dabei nicht direkt und frontal vorgeführt, sondern im Gegenteil auf eine sehr menschliche Art. Entsprechend versuche ich in AL LEIL, diese neue Ausdrucksform, bei der es vor allem um die Verbindung von Privatem und Geschichte geht, in Bewegung, voran zu bringen.

Welche Rolle spielt innerhalb dieser Verbindung der Traum, die Imagination? Das Autobiographische?

Mir war die Dimension des Traums immer  sehr nahe. Sie erlaubt mir, Persönlichkeiten ganz nach meiner Vorstellung zu schaffen. Und zugleich Persönlichkeiten, die so sind, wie sie selbst sein möchten. Es gibt doch einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, in der ich eine Figur behandeln möchte, und derjenigen, in der sie selbst auftreten möchten. Andererseits interessieren mich Träume nicht so sehr wie die Psychologie. Sie interessiert mich, weil sie ein wichtiger Bestandteil der arabischen Kulturguts sind, auf den ich sehr stolz bin. Die Imagination interessiert mich nur im Hinblick auf die Bilder, die sich in der Erinnerung an sammeln, aber nicht als Vorgang an sich. In AL LEIL verdankt sich die Sprache der Bilder in erster Linie der Zuverlässigkeit, mit der das Gedächtnis die Imagination inspirieren kann.

Und das Autobiographische?

In meinem ersten Film habe ich mich noch mehr auf autobiographische Aspekte gestützt als in AL LEIL, weil ich inzwischen wenig Angsthabe, meine Geburtsstadt Kuneitra so zu schildern, wie ich sie kenne. Stattdessen beschreibe ich das Leben dieser Stadt bevor ich sie Kannte, bevor ich geboren war, und schöpfe dabei aus den Erinnerungen meiner Eltern. Wenn ich schreibe, wird das Autobiographische so präsent, dass ich nicht mehr genau weiß, wo die Grenze zwischen Realität und Erfindung verlauft. Auch hier gibt es eine sehr enge Verflechtung. Ich sehe beispielsweise meinen Vater, den ich vor etwa einem Jahr verloren habe, immer mehr durch die Augen des kleinen Jungen im Film. Trotzdem hat das nichts mit der Person des Vaters in AL LEIL zu tun. Ich will damit sagen, dass es einen wechselseitigen Einfluss der eigenen Biographie auf die Geschichte des Films gibt, und umgekehrt einen Einfluss dieser Geschichte auf meinen Umgang mit meiner Vergangenheit. Außerdem habe ich dem Publikum niemals vorenthalten, dass mein Vater eines natürlichen Todes gestorben ist, obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn er im Krieg gefallen wäre.

In der arabischen Welt ist der Traum ein wesentlicher Bestandteil des reichen Kulturerbes. Er konnte die Funktion der Idealisierung von Realität gehabt haben. Zum Beispiel: wenn der Sohn seinen Vater lieber im Jahr 1967 als 1948 verloren hafte. Kann aber der Traum nicht auch zu einer Rückzugsmöglichkeit werden, wenn die Realität unerträglich scheint?

Ihre These ist interessant und richtig, es gibt da tatsachlich eine Ambivalenz bei mir. Der Traum hat diese Funktion der Idealisierung. Und zwar in dem Maße in dem er dabei hilft, sich zu befreien, sich wieder in einer düsteren Wirklichkeit aufzurichten. Schon etymologisch tragt das Wort im Arabischen beide Bedeutungen in sich; genau wie im Französischen impliziert das Wort Traum zwei Gedanken: das traumhafte Geschehen, während man schläft, und die Sehnsucht nach etwas, das man erreichen möchte.

Eine Frage zum Verhalten der jungen, ebenfalls vaterlosen Männer im Film; ist ihre Haltung eine Allegorie? Ist sie gewollt?

Wer ohne Vater gelebt hat, kann der Versuchung nicht widerstehen, dieses Gefühl, eine Waise zu sein, in allem, was er sieht und tut, wiederaufleben zu lassen. So betrachtet hat der Film eine eher autobiographische als metaphorische Dimension. Auf einer rationellen, objektiven Ebene denke ich, dass das syrische Volk seinen Vater verloren hat. Die Suche nach einem echten Vater für das syrische Volk erklärt die Ablehnung all der künstlichen Väter, die sich nur durch ihre Macht delirieren. Historisch betrachtet waren die wahren Vater Syriens Männer mit einer reinen Seele, denen es allerdings an Bewusstheit mangelte. Ich habe diesen Vater positiv dargestellt. Obwohl ich auch zeige, dass ihre Einfluss auf die syrische Gesellschaft gar nicht positiv war, denn sie hatten, bei aller Größe und Reinheit der Seele, nicht das für die Ereignisse erforderliche Bewusstsein. Aber das gilt lediglich für die politischen Strukturen. So gesehen war meiner Meinung nach der Aufstand in Palästina 1936 eine gute, sehr gesunde Reaktion auf den Druck, der auf dem Land lastete. Leider war die Form dieser Reaktion eine anarchische. Die Syrer haben diese Reaktion nachgeahmt, nur hat ihnen das auch nicht zu einem höheren Bewusstseinsgrad verholfen. Aus diesem Grund gibt es im Film eine charakteristische Szene, die zeigt, dass die Reaktion auf die Ereignisse positiv war, wenn sie auch ohne Analyse blieb, die Naivität dieser Reaktion zu überwinden geholfen hatte. Ich spreche von der Szene beim Friseur, die so ganz anders ist als der Rest des Films. Die Szene dauert lange, und der Dialog zwischen den beiden Hauptpersonen verläuft eher schleppend. Der eine sagt zum andern: “Erzähle mir alles, was dir heute passiert ist.” Die Tatsache, dass der Friseur stündlich nach einer neuen Geschichte fragt, zeigt, dass es ihn um das Romanhafte an sich geht. Und sein Gesprächspartner antwortet ihm, dass die Geschichte sich gut für einen Roman eignen wurde. Dieser Dialog ist nicht dramatisch, aber er steht exemplarisch für den Inhalt des Films; in der Antwort wird all die Initiative und Gutwilligkeit deutlich, der jedoch das Bewusstsein für das, was passiert, fehlt: “Wir haben heldenhaft gekämpft und viele Engländer getötet. Die Araber haben uns herausgefordert. Und wir haben sie geschlagen. Politik ist ihre Sache, das geht uns nichts an, “Hier wird das Selbstverständnis der Kämpfer als Ausführende ohne politisches Bewusstsein offenbar, Die Diskrepanz zwischen der Gutgläubigkeit dieser Menschen und ihrem Bewusstsein für das politische und geschichtliche Geschehen ist charakteristisch für die Väter, die ich vorführe. Diese Menschen sterben auf ganz unsinnige Art, weil sie Verlierer sind — eine andere Rechtfertigung ihres Todes gibt’s nicht. Die Kinder dieser Kämpfer denken sich im Traum neue Tode aus. (...) Auch die Frau des Kämpfers erzählt ihrem kleinen Jungen einen Traum, der den realen Tod des Vaters in einen idealen verwandelt. Viele Zuschauer haben mich gefragt, warum ich den Helden in der Moschee sterben ließ. Der Ort ergab sich aus cinema Traum, dem Traum der Mutter, die ihn dort als Gefangene gesehen hatte. Ausgehend von diesem Traum lässt der Sohn seien Vater in der Moschee sterben.

Dies ist auch im Film die Erinnerung. Die Erinnerung an ein Volk. Das allzu oft durch mächtige Einflüsse in Bereiche außerhalb der Geschichte geriet. Dennoch ist dies kein historischer Film, den auch die Gegenwart wird spürbar. Es gibt da diese Windmühle, die sich dreht oder plötzlich stillsteht, als wolle sie das Verstreichen der Zeit markieren.

Jeder Zuschauer möchte sich, von den Bildern der Vergangenheit, die Signifikanten des aktuellen Geschehens, in dem wir uns befinden, die Gegenwart erhellen lassen. Es ist richtig, dass ich die Vergangenheit untersuche, aber es ist die Gegenwart, die mich beschäftigt.
Was die Windmühle angeht. So wurde ich es vorziehen, es bei der Komplexität und Doppeldeutigkeit dieses Symbols zu belassen. Ich konnte erläutern, dass die Stadt Kuneitra eine große Anzahl solcher Windmühlen besaß. Der Held des Films kommt aus Hama, einer anderen Stadt. Dank der Existenz der Windmühlen fühlte er sich nicht als Fremder, denn auch in seiner Heimat gab es viele. Ich möchte aber die symbolische Verbindung zwischen diesen beiden Städten, sofern es sie gibt, ganz der Deutung durch den Zuschauer überlassen.

Fühlen Sie sich als Regisseur und Intellektueller dem syrischen Volk und seiner Geschichte gegenüber verantwortlich?

Ich denke, dass das auf mich persönlich nicht mehr zutrifft als auf alle Intellektuellen in meinem Land, die mit der Geschichte wie mit der Gegenwart gleichermaßen Verantwortungsvoll umgehen. Das ist ein Anliegen, das wir mit sämtlichen syrischen intellektuellen teilen. Jedenfalls definiere ich so die Intellektuellen. Alle Mächte der arabischen Welt versuchen, die Erinnerung zu konfiszieren, aus zu löschen und zu annullieren. Die Funktion der Intellektuellen ist es, die Erinnerung immer wieder hervorzuholen, zu rehabilitieren, zu hinterfragen und zu beleuchten. Das ist das einzige Mittel, um sich gegen die arabischen Regierungen zu schützen, die das ständig zu verhindern suchen.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich sehr darüber gefreut, am Ausgang des Kinos Menschen sagen zu hören, dass der Film nicht nur im Kino, sondern auch in den Schulen gezeigt werden musste, da die Schuler von der Vergangenheit und diesen Erinnerungen nichts wussten. Und wenn der Film zu etwas gut sein soll, dann ist das, den Schülern einen neuen Zugang zur Vergangenheit zu schaffen, mit der man versucht, die Lücke im offiziellen Unterricht schließen zu können.
Beispielsweise kannte kein Jugendlicher den ersten syrischen Staatschef nach der Unabhängigkeit, und es war mir ein besonderes Anliegen, seien Namen im Film mehrmals zu wiederholen. Nicht, weil ich auch nur die mindeste Sympathie für ihn empfinde, sondern weil ich es für untragbar halte, dass man nicht weiß, wer er ist, dass sein Name aus der Geschichte verschwunden ist. Man muß die Menschen an seine Existenz und an die Rolle, die er gespielt hat, erinnern.
Ein Zuschauer hat mich gefragt, oh die Personen des Films Tunesier waren. Damit bewies er, dass selbst die Tunesier (und er schien Schüler zu sein) nicht wissen, dass Syrien vor noch gar nicht langer Zeit ein großes Volk war, in dem viele verschiedene Volksgruppen zusammenlebten. Das bestärkt mich in meiner Vermutung, dass es ein organisiertes Projekt gibt, mit dessen im gesamten arabischen Raum die Erinnerung an alles Vergangene ausgelöscht werden soll, eine Erinnerung, die Werte vermitteln konnte, die diese Mächte nicht dulden.

Wenn man Ihre drei Film Les rêves de la ville, le rêve und AL LEIL anschaut, fühlt man eine starke Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Bei AL LEIL hat man den Eindruck, dass man einem einzigen Volk, fast einer Art Gemeinschaft gegenübersteht.


Um nicht ideologisch zu werden, zitiere ich Ihnen den letzten Satz des Films. Der kleine Junge nimmt ein Photo in die Hand, auf dem diese Kämpfer bei ihrem Aufbruch 1948 abgebildet sind und das man bereits mehrmals im Filmgesehen hat. Er schaut es lange an und sagt dann zu seiner Mutter. “Ist das Palästina, Mutter?”, und sie antwortet: “Nein, das ist Kuneitra.” Warum sind das die letzten Worte in meinem Film? Ich bin der Ansicht, dass Palästina und Kuneitra das gleiche Ziel verfolgen: Okkupation und Zerstörung. Und dass sie denselben Feind haben, nämlich Israel. In diesem Sinne sind wir tatsächlich ein einziges Volk.

Eigentlich war die Frage eher historisch als politisch gemeint. Diese ganze Region war eine Provinz des ottomanischen Reiches, bevor sie unter den Kolonialmächten jener Epoche, nämlich England und Frankreich, aufgeteilt wurde.

Es war tatsächlich ursprünglich eine einzige Region, die der Kolonialismus zerstückelt hat. Diese künstlichen, von den Franzosen und Engländern geschaffenen Grenzen werden wahrhaftig nicht dazu beitragen, etwas an den spontanen Reaktionen der Menschen zu ändern, die immer auftreten, wenn etwas auf der einen oder der anderen Seite der Grenze passiert.

Die Bilder des Films enthalten zahlreiche Lichtreflexe. Oft sieht man Fensterscheiben, Spiegel. Soll damit ausgedruckt werden, dass dieses Volk immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird?

Das ist eine interessante Lesart. Wenn ein Filmemacher seine optimale Ausdrucksform sucht, hat er vorher keine konkrete Vision von den Dingen. Was ihn vor allem interessiert, sind Spielarten von Anziehungskraft, von ästhetischem Magnesium. Sie beinhalten wahrscheinlich auch unbewusste Bedeutungen, die im Moment der Realisation nicht formuliert werden. Die am Ende aber dennoch präsent sind. Die Spiegel haben dementsprechend vor allem eine persönliche. ästhetische Anziehungskraft. Die Geschichte begann mit einem ganz einfachen Versuch in meinem letzten Film. Les rêves de la Ville. Dieses anfangs ganz künstliche Element hat meinen Freund Oussama stark interessiert, der es in seinem Film Etoile du jour verarbeitet hat. Als ich Oussama mit dem Spiegelmotiv sehr differenziert arbeiten sah, wollte ich ihm auf meine Weise antworten, und habe damit eine Deutung wie diese bewirkt.

Wenn auch der ästhetische Aspekt für Sie Selbstzweck ist, so scheinen uns doch diese wenigen Erklärungsversuche nötig, de es eine Entsprechung zwischen Form und Inhalt Ihres Films gibt. Aber zurück zu einer konkreten Frage. Das für den Zuschauer erstaunlich ist der Aufbau der Handlung. Der Film handelt vom Erinnern, wendet sich gegen das Vergessen. Er handelt von einem sehr komplexen Gegenstand und ist dennoch kein historischer Film. Stets gibt es verschiedene Geschehen, die sich in demselben Boden zugleich abspielen. Hat das nicht eine sehr lange Vorbereitung erfordert, beziehungsweise die Drehzeit betreffende Probleme aufgeworfen? Wie viel Zeit genau benötigen Sie für die vorbereitjung und die anschließende Produktion?

Dieser Film wurde nach einer literarischen Vorlage realisiert. In der bereits alle Stimmungen enthalten waren. Die jedoch keinerlei den Bildaufbau betreffende direkte Vorgaben aufwies. Während der sechsmonatigen Vorbereitungszeit des Films kümmerte ich mich überwiegend an die Einrichtung der Szenen und die Anfertigung der Kostüme. Und kümmerte mich um die Besetzung. Die Hauptdarstellerin fand ich erst im dritten Anlauf. De facto begann ich mit nichts als meiner Erinnerung und der literarischen Vorlage zu drehen. Das erklärt, weshalb während der Dreharbeiten erst Pläne angefertigt werden mussten: außer der Ausstattung und den Kostümen existierte noch nichts. Während der Dreharbeiten war ich gefordert, das Boden ohne irgendwelche Vorbereitung entsprechend meiner Vorstellung zu entwerfen. (...) Das Team hatte großes Vertrauen zu mir und handelte sehr schnell (...). Das war nur möglich. Weil wir alle zusammenarbeiteten. (...).
Mein Budget war für 100 Drehtage kalkuliert, und gereicht hat es für die 250 Drehtage. Am Ende waren wir halb verhungert! Tatsächlich entstanden Überschreitungen des Budgets hauptsächlich in den technischen Bereichen, bei Filmmaterial, Schnitt und Kopierwerkskosten.

In Ihrem Film gibt es viele Frauenrollen. Wie sehen Sie die Rolle der Frau in dieser Gesellschaft innerhalb dieser Geschichte?

Ich wollte ihr eine Stellung, eine Funktion und eine Bedeutung zukommen lassen, die vielleicht wichtiger ist als sie selbst in der Lage ist zu beanspruchen. Hinsichtlich der Behandlung der weiblichen Personen gab es eine Entscheidung des Autors, die wichtiger ist, die ihnen mehr Bedeutung verleiht als den übrigen Personen der Handlung.

Der Film beginnt genau da, wo les rêves de la yule endet, mit dem Mond. Jener Film endete, obwohl er ein wenig lächerlich war, mit einem kleinen Hoffnungsschimmer. Al LEIL dagegen ähnelt eurer Tragödie, der Tragödie eurer Nation. Ist sie das für Sie?

Ein arabischer Kritiker schrieb, dass der Film eine visuelle Tragödie zeigen, und diese Definition kommt dem, was ich machen wollte, sehr nahe.

(Das Interview führten Bruno Jäggi und Martial Knäbel anlässlich des 7. Festival de films in Fribourg. Übersetzung: Mahmoud Ben Mahmoud.)

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Gespräch mit Kais al-Zubaidi über die Zusammenarbeit mit Mohamed Malas
Frage: Worum geht es in AL LEIL?

Kais al Zubaidi: Es ist ein Film über das Gedächtnis, über die verschiedenen Wege, die es nehmen kann. Der Regisseur erzählt von seinem Vater, aber keine konventionelle Geschichte. Nach Allem, wie dieser Film entstanden ist, wie er geschrieben, gedreht, montiert wurde, kann man ihm als eine Art Experimentalfilm bezeichnen, obwohl er nicht als solcher gedacht war. Jeder Teil des Films ist vom Standpunkt eines bestimmten Erzählers bestimmt. Das ist einmal die Mutter, die ihm, dem Autor, alles vom Vater erzählt: Das ist für ihm das erzählte Gedächtnis. Dann ist es der Autor als Jüngling, der die Suche nach seinem Vater nun selbst übernommen hat: Das ist das erlebte Gedächtnis. Denn alles, was er erzählt, hat er selbst unmittelbar erlebt. Es ist nichts, was ihm von jemand anderem übermittelt worden ist. Dazu kommt noch das gewünschte Gedächtnis.

Ist der Film autobiographisch?

Ja, aber durch die gedankliche und historische Interpretation wurde die Geschichte verallgemeinert. Malas hat gelesen und recherchiert, Erfindungen kamen hinzu. Aber generell sind es — wie auch in seinem vorhergehendem Film Ahlam al medina (Träume von der Stadt) — seine Erlebnisse. Aber dieses persönliche zu formulieren, war nicht einfach, sondern viel mehr ein langwieriger Prozess, der von dem hartnackigen. Ja besseren Suchen des Autors nach subjektiv authentischen und komponierten filmischen Bildern bestimmt wurde. Die Entstehung des Films gliederte sich in drei Stationen. Malas hat zuerst, gemeinsam mit Ussama Mohamed (Tagessterne) nach seinem Roman Leuchtreklamen über einer Stadt, um rein literarisches Drehbuch geschrieben. Das liest sich wie ein selbständiges Werk. Daraus hat er ein Art Drehbuch entwickelt, das aber nicht stabil war, sondern viel Raum für Improvisation ließ. Während des Drehens suchte er einesteils immer nach äquivalenten für bestimmte literarische Formen, schrieb aber gleichzeitig immer weiter neue Szenen, gemeinsam mit seinem künstlerischen Team, vor allem mit seinem Kameramann, Yussif Bin Yussif aus Tunesien. Malas war ständig auf der Such nach überzeugenden optischen Lösungen. Denn einerseits manches aus Produktionsschwierigkeiten nicht so geworden, wie er sich das dachte. Andererseits hatte er während des Drehens auch immer neue Einfälle. Die Montage war die drifte in sich geschlossene künstlerische Station, bei der ich dann dazu gekommen bin. Malas hatte, nachdem er bereits das ihm wichtige Material ausgewählt hatte, zunächst ungefähr acht Stunden Material übrigbehalten. ursprünglich sollte er die Montage in Paris mit einer bekannten Schnittmeisterin machen, fragte mich aber dann, oh ich mir das Material ansehen wurde und, wenn ich eine persönliche Beziehung dazu fände, mit ihm dann zusammen die Montage machen würde. Voraussetzung war, dass ich das nur machen sollte, wenn ich wirklich eine echte Beziehung zu dem gedrehten Material finde. Mohamed Malas macht seine Filme auf ganz spezifische Weise. Ich kenne kaum jemanden. Auch unter den Autorenfilmen, der ähnlich wie er arbeitet. Er hat einmal auf einem Symposium über seine Arbeitsprinzipien gesprochen: Jede Periode — Schreiben, Drehen. Schneiden ist heilig. Aber sie ist nur heilig. Solange die jeweilige Periode im Gange ist. Die nachfolgende Periode. Für sich wiederum heilig, hebt die Unantastbarkeit der vorherigen auf, so wie man beim Drehen auf das Geschriebene keine Rucksicht nehmen kann, kann man beim Schneiden auf das gedrehte Material keine Rucksicht nehmen. So entsteht der Film in jeder Periode neu, wird immer wieder erdacht und erfunden. Mit dieser Methode ist ihm mit AL LEIL erstaunliches gelungen.
In seinem vorherigen Film Träume von der Stadt werden die private Geschichte und die allgemeine Geschichte parallel erzählt. Aber in AL LEIL stecken beide Elemente ineinander,  das ist irgendwie aus einem Guss. Er erzählt über private Schicksale von Menschen. Aber im Endeffekt hast du das Gefühl, dass diese Leute fast dein Privatleben haben. Sie verschwinden in der Geschichte, so wie die Einwohner des Ortes Kuneitra aus ihrem Land verschwunden sind. Sie verkörpern die Geschichte, doch wenn du sie suchst, sind sie nicht da, sie sind unbekannte Menschen. Malas gelingt es, über diese Leute zu erzählen, aber er erzählt im Grunde über das Land und die Gesellschaft und über die komplizierten Widerspruche innerhalb dieser Gesellschaft in einer bestimmten, sehr wichtigen historischen Zeit. Es geht um die 3Oer und 4Oer Jahre, um die Okkupation Frankreichs, die Ereignisse in Palästina, die Beziehungen Syriens zu Palästina, später um die Feierlichkeiten anlässlich der Unabhängigkeit Syriens. Damals wurde die bürgerliche Entwicklung in Syrien durch einen Putsch der Militärs, die Machtubenahme durch Hosni Elzaiem in eine völlig andere Richtung gedrängt. Es war das erste Mal, dass die Militärs Nahen Osten, in einem Land und später in der ganzen Region, die Macht direkt übernahm. Daraus ist eine lange Nacht, AL LEIL,  entstanden.

Die im Film erzählte Geschichte hat also mit der späteren Zerstörung Kuneitras durch die Israelis überhaupt nichts zu tun?

Eine Beziehung ist irgendwie angedeutet. Malas hat in Kuneitra gedreht, er hat einiges für seine Zwecke dort rekonstruiert, er hat aber auch in anderen Orten, in Soueida zum Beispiel, Aufnahmen gemacht, überall nach Elementen gesucht, die typisch für die Merkmale des alten Kuneitra waren. Er hat auch die heutigen Ruinen Kuneitras gedreht. Ursprünglich hatte er die Absicht, diese Bilder in den Film einzubauen. Die letztlich gefundene Form des Films hat das nicht zugelassen.
Die Geschichte ist die seines Vaters. Dieser Mann kommt 1936 zusammen mit Mudjahedin nach Kuneitra, um an der Revolution gegen die Engländer in Palästina teilzunehmen. Er bleibt einen Tag, fährt mit seinen Kameraden weiter nach Palästina und kommt später wieder nach Kuneitra zurück. Dort arbeitet einer seiner Bekannten als Friseur. Es gefällt dem Mann in Kuneitra, und er heiratet. Später, 1948. Geht er nochmals mit den Mudjahedin nach Palästina, kommt zurück, wird verhaftet, kommt aus dem Gefängnis wieder heraus und stirbt. Das ist dann etwa 1949.
Aber der Film geht mit der Zeit auf andere Weise um, ein Beispiel: Wir sehen eine ganz lange Szene. In der die Mutter den Sohn ruft und von ihm verlangt, dass er den Kranz aus Aas (einer grünen duftenden Pflanze) am Grab seines Vaters niederlegt. Während sie mit dem Sohn spricht, der nicht zu sehen ist, geht sie von einem Zimmer in den Garten und dann in ein anderes Zimmer, und da hat sie plötzlich ein anderes Kleid an, die Wand explodiert, und das Haus wird zur Ruine. Innerhalb einer Szene bewegt sich also Mutter in zwei Zeiten.
Der Film erzählt die Suche des Sohnes nach dem Vater, nach seinem Grab. Der Sohn will der Mutter schließlich beweisen, dass der Vater nicht 1949, in der Folge von Unterdrückung und Depression im eigenen Land, gestorben ist, sondern später als Mudjahid im Kampf gegen die Israelis —so wünscht er es sich. Das ist das gewünschte Gedächtnis. Denn der Vater war ja ein Mudjahid, und sein Tod war eher banal, nicht für ihm persönlich, aber für das Land nicht ehrenhaft, eigentlich hatte er als Kämpfer, als Märtyrer sterben müssen und nicht als Folge der alltäglichen Unterdrückung durch die eigenen Militärs. In dieser künstlerischen Lösung wird die Spezifik der ganzen Entwicklung in der Region erfasst. Anstatt dass die Menschen für ihre Ideale kämpfen und sterben, werden sie Opfer ihrer eigenen alltäglichen Unterdrucker. Das Gewünschte entlarvt das Erlebte. Mit diesem gewünschten Tod versucht der Autor die Schande des Erlebten abzuwaschen. Dieses persönliche Schicksal steht für das zerstörte Kuneitra, für das ganze Land. Die Erinnerung soll gereinigt werden, oder vielmehr soll durch diesen Versuch, der Erinnerung eine andere Wendung zu geben, das heutige Denken einen Anstoß erhalten. Malas hat mit alten audiovisuellen Mitteln, auch mit einer sehr überlegten Tonbehandlung, versucht, die Vergangenheit filmisch zu vergegenwärtigen. Er erzählt etwas aus der Vergangenheit, aber alles, was man erlebt, ist aktuell. Dabei ist es nicht künstlich. Deshalb war auch der Weg von den ersten literarischen Fassungen bis hin zum Film so langwierig. Es wirkt nicht ‘gewollt’, sondern ist ‘natürlich’, ‘gewachsen’, natürlich wird die Geschichte nicht fortlaufend, chronologisch, sondern in Sprüngen, mit Bruchstücken aus dem Leben der Personen erzählt. Zur gleichen Zeit werden auch ausgewählte historische Ereignisse einbezogen.

Mit Dokumentarmaterial?

Er hatte zuerst geplant, mit Dokumentarmaterial zu arbeiten. Das ließ er später fallen und erfasste die Zeitereignisse dann mehr metaphorisch.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Mohammed Malas, wenn alles so ganz persönlich von ihm kommt, durch ihn hindurchgegangen sein muss, ehe es filmische Gestalt annimmt.

Alles hat sehr lange gedauert, er hat etwa über ein Jahr gedreht. Malas ist Maximalist, gibt sich nicht schnell mit gefundenen Lösungen zufrieden. Seine Seele ist so. Das ist manchmal quälend. Er glaubt wahrscheinlich, dass eine Lösung, die man schnell findet, nicht gut sein kann. Er muss auch alles persönlich nachprüfen. Wir waren immer zusammen am Schneidetisch. Als ich die acht Stunden Material gesehen hatte, war ich, obwohl es viel zu viel Material war,  stark beeindruckt, weil ich gefühlt habe, dass der Film, dass die Geschichte irgendwie da ist, obwohl ich nicht genau wusste, warum es ging, das Szenarium sollte ich erst lesen, nachdem ich das Material gesehen hatte. Ich fühlte  doch etwas ganz Eigenes, Ungewöhnliches. Unsere erste Aufgabe bestand darin, alles das wegzunehmen, was nicht dazu gehört. So bekamen wir etwa vier Stunden Material, aber die vier Stunden waren natürlich immer noch zu viel, und nach langen, harten, aber auch sehr interessanten Auseinandersetzungen kamen wir auf zweieinhalb Stunden. Danach kam folgendes Stadium. Wir hatten zwar nun die Geschichte, hatten aber zugleich das Gefühl, dass in dem ausgesonderten Material von etwa fünf Stunden auch noch Bilder waren, die zur Geschichte gehörten. So mussten wir das alles noch einmal durchgehen und das für uns wesentliche herausnehmen. Malas ist peinlich sorgfältig, er hat immer gesucht, gesucht, gesucht, konnte gar nicht aufhören. Die letzte Zwei-Stunden-Fassung hat er dann synchronisiert. Das war notwendig, weil es sich aufgrund verschiedenster Umstände als unmöglich erwiesen hatte, mit Originalton zu drehen, obwohl er zunächst einen guten Tonmeister aus Frankreich dabei hatte. Der Tonmeister merkte auch sehr schnell, dass der Film nicht realistisch im üblichen Sinne sein wird und folglich auch gar keinen Originalton brauchte, sondern später eine ganz andere Ton-Strategie erfordern wurde. Und die Synchronisation hat Malas auf die gleiche maximalistische Weise gemacht wie den ganzen Film. Für die zwei Stunden Film, der wenig Dialoge hat, existierten schließlich für die Off-Tone fünf Bänder und für die Dialoge drei Bänder. Unwahrscheinlich. Er sagte dann zu mir: Du hast es ja gesehen. Genauso wie ich gedreht habe, habe ich synchronisiert. Und das alles, obwohl der Zeitdruck ungeheuer war. Der Film sollte ja in Karthago laufen. Wir haben dann in Partisanenmanier Tag und Nacht gearbeitet. Und es ist charakteristisch für diesen Film, dass er schließlich in Karthago nur in einer Vormischung mit einem Zwei-Band-Kopie lief, das heißt. Dass der Film nach jeder Rolle unterbrochen werden musste Bild- und Tonrollen mussten ja neu eingelegt werden -, und dass er trotzdem den Hauptpreis bekam. Mohamed Malas ist sich bis zum Schluss treu geblieben, hat keinerlei Kompromisse gemacht, ist seiner Arbeitsmethode konsequent gefolgt.

Wie wird der Film in Syrien beurteilt?

Das weiß ich noch nicht. Die Abnahme-Kommission der Filmorganisation hat jedenfalls, aufgrund der drängenden Zeit, eine unfertige Fassung gesehen. Wir werden sehen. Er erzählt über eine bestimmte, genau identifizierbare Zeit, in der der Diktator, Hosni Elzaiem, herrschte. Nouri Bouseid aus Tunesien sagte mir jetzt in Leipzig, dass er glaubt, es sei der beste arabische Film überhaupt, den er je gesehen habe. Malas hat eben die Fähigkeit. Die Mitarbeiter dazu zu bringen, dass alle radikal schöpferisch mitarbeiten, und trotzdem wird ihm der Film nie fremd, es bleibt sein Film. Ich kann ihm tolle Vorschläge machen, er sagt dazu: Sehr gut, aber es gehört nicht zu mir, nicht zum Kontext, nicht zum Film. Er hat ein untrügliches Gefühl für seinen Film. Das ist ja eine generelle Frage beim Film. Einerseits gilt er als das Ergebnis einer kollektiven schöpferischen Arbeit, anderseits entsteht da eine Welt, die von einer Person, dem Regisseur, bestimmt ist.

Noch eine Frage zur politischen Seite: Im Film steckt also ein Aufruf zum Heroismus, zu anderer Art militantem Widerstand. Wenn das so verstanden wird gäbe es denn in Syrien politische Bewegungen, die sich dahinter stellen und sich unter diesem Aspekt mit dem Film verbunden wurden?

Nein, denn der Film ist eher traurig und depressiv, weil er Wahrhaftig ist. Malas hat seine Interpretation der Geschichte als schöpferisches Individuum und als Einwohner dieses Landes ohne jede Kompromisse formuliert. Das ist ihm mit seiner Methode gelungen. Ich hoffe, dass AL LELL auch wirklich rezeptwert wird. Denn das ist schwierig. Den Film versetzt uns in eine andere Zeit, die die Zuschauer nicht kennen, nicht mitgemacht haben. Malas hat zum Beispiel die Mutter mit zwei Schauspielerinnen besetzt, damit man versteht, dass ist die Mutter in den 30er Jahren, und das ist sie später, Das ist eine Art vertikaler Montage. In einer Szene trifft sich die junge Mutter mit der älteren Mutter, beide kommen sich nahe, fassen sich an, und die jüngere gibt der altere dann die Führung. Oder der Sohn, der 1973 erwachsen ist, sieht sich selbst zu einem früheren Zeitpunkt im Bild mit seiner Mutter. Das sind so Elemente, die man als experimentell bezeichnen konnte, die sich aber in das Ganze organisch einfügen. Für Malas ist es ein Sprung. Es ist nach Traume von der Stadt sein zweiter Film, er hat inzwischen andere Erfahrungen gemacht. Man spürt die Reife und das ästhetische Gewicht.

Noch eine simple Frage zur historischen Verständigung. Existiert 1936 schon ein selbständiges Syrien oder gehörte alles, also auch Kuneitra, zu Palästina?

Nein, Syrien existierte schon mit einer eigenen Geschichte, und Kuneitra lag und liegt in Syrien. Aber es gibt darrhubehrhinausgehende Zusammenhange. Zum Schluss nimmt der Sohn das Bild seines Vaters, auf dem er als Mudjahid zu sehen ist, zeigte es der Mutter und sagt: Das ist Palästina! Da nimmt sie das Bild, schaut es an und sagt: Nein, das ist Kuneitra. Also steht Kuneitra für Palästina.

Diese Szene deutet darauf hin, dass beides wiederum nicht nur wortwörtlich gemeint ist, sondern für etwas übergreifendes steht, für eine Idee von Freiheit vielleicht oder von aufrechtem Leben.

Es steckt eine merkwürdige Dialektik in der Geschichte: Man versucht, ein anderes arabisches Land zu retten und verliert dabei sein eigenes. So geht die Geschichte in Arabien. Das ist die Verdammnis der Entwicklung in Palästina. Der Film ist den unbekannten Menschen gewidmet, die gekämpft haben und die niemand kennt, die im Dunkeln bleiben. Der Vater ist ein solcher Mensch, der in der Geschichte verschwindet. Der Sohn versucht, wenigstens kleine Lichter auf ihn zu richten. Das sind die Lichter des Gedächtnisses, das viele Variationen hat und sich aus vielen Quellen speist. Der Autor ist der Erzähler, Malas spricht seinen Text selbst. Es gibt eine Fülle von Eindrucken, aber du wirst sehen, dass das Ganze nicht chaotisch oder verwirrend ist, sondern wesentlich und klar gegliedert.

(Das Gespräch mit Kais al Zubaidi führte Erika Richter im Februar 1993 in Berlin.)
Anmerkung: Kais al Zubaidi ist ein bekannter arabischer Regisseur, realisierte u.a. den Spielfilm Al yazerli (Syrien 1974) und viele Dokumentarfilme, u.a. Palästina Chronik eines Volkes, Gegenbelagerung, Stacheldrahtland, Stimme der stummen Zeit - Felicia Langer. Er studierte an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg Kamera und Schnitt und arbeitet gelegentlich als Schnittmeister.
(Internationales Forum des Jungen Films Freunde der Deutschen Kinemathek, Berlin 30 (Kino Arsenal))

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