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Texte und Radio über den Film

Eine Kindheit im Libanon - Der Film "1982" kommt in die Kinos
in: DLF Kultur, Kultur heute vom 4.11.2021, Autor: Rüdiger Suchsland, MP3


Bilder des heraufziehenden Krieges - von Fabian Tietke in taz, 4.11.2021

Der libanesische Regisseur Oualid Mouaness erinnert in „1982“ seinen verfrühten letzten Schultag

Das Donnern ist da, noch bevor der Film wirklich begonnen hat. Für den jungen Wissam ist die wichtigste Mission an diesem Sommermorgen im Jahr 1982, seiner Mitschülerin Joanna einen Brief in den Spind zu legen. Auf dem Hof versuchen die Schüler_innen der Grundschule in den Bergen bei Beirut ihre Nervosität zu zügeln. Vor ihnen liegt ein Tag voller Prüfungen. Im Büro der Schulsekretärin rattert das Radio immer neue Meldungen über den Vormarsch der Israelis herunter. Der libanesische Regisseur Oua­lid Mouaness rekonstruiert in seinem Langfilmdebüt „1982“ seinen letzten Schultag, bevor die Schule vorzeitig vorbei war. 

Eine Außenaufnahme zeigt die Englischlehrerin Yasmine und ihren Kollegen Joseph beim besorgten Blick aus dem Fenster während die Schüler_innen in ihre Prüfungen vertieft sind. Noch ist das Donnern der Jets weit entfernt. Wissam schlendert über den Hof, auf der Suche nach einem ruhigen Ort, um eine Zeichnung fertig zu bekommen. Es kreist auch diese um die Figuren der Anime-Serie „UFO Robot Grendizer“. Auch der Himmel über dem Schulhof wirkt nun wie schraffiert.

Virtuos bedient sich Mouaness eines begrenztes Repertoires von Elementen für seinen Film. Die Handlung bleibt fast vollständig auf den Mikrokosmos der Schule beschränkt. Die warm getönten Bilder des Sommertags dortin der Schule zeigen einen geschützten Raum, des Lernens, des Heranwachsens und der Begegnungen, für Wissam mit Joanna, die die Briefe ohne Absender nicht beantworten kann, aber sie weder entsorgt noch den Lehrer_innen meldet. In Elementen wie den Schaffuren im Himmel weitet sich die Welt Wissams auf die Außenwelt des Films. Die Bedrohung baut sich auf der Tonspur auf. Wie bei einem aufziehenden Gewitter kommt das Donnern allmählich näher.

Geschickt durchflicht der Regisseur den Schultag mit kleinen Andeutungen der Konflikte, die den Libanon in den Jahren des Bürgerkriegs prägten. Als Yasmines Bruder Georges sie an der Schule absetzt, reißt sie die Kette mit dem Kreuz vom Rückspiegel, damit es ihrem Bruder nicht an einem der Kontrollpunkte des vom Bürgerkrieg zerteilten Libanon zum Verhängnis wird. Ihr Bruder erklärt, noch am gleichen Tag in den Süden zu fahren. In den Süden, zu den Kämpfen. Joanna ­wiederum ist jenseits der Schule für Wissam unerreichbar, weil sie im mehrheitlich muslimisch geprägten Westen von Beirut wohnt, er selbst im mehrheitlich christlich geprägten Osten.

Die Fassade der Ruhe, die die Lehrer versuchen aufrechtzuerhalten, wird immer rissiger. Ein Dieseltank geht in Flammen auf. Dann rollt eine Kolonne gepanzerter Truppentransporter an der Schule vorbei. Im Sekretariat setzt hektisches Treiben ein, die Eltern der Kinder müssen kontaktiert werden, gebeten werden, die Kinder abzuholen. Zwischen den beiden Teilen Beiruts ist nur noch ein einziger Übergang geöffnet. Allmählich übertönt das Donnern der Jets und der Bomben die Normalität der Schule. Mitten in der Matheprüfung werden die ersten Schüler abgeholt. Im Himmel direkt über dem Schulbus, der die Schüler_innen ein letztes Mal aus der Schule nach Hause fahren soll, wird ein syrisches Flugzeug abgeschossen.

Voller Empathie für seine Figuren hat Oualid Mouaness in „1982“ einen großartigen Film realisiert. Mouaness inszeniert den heraufziehenden Krieg wie in einem Horrorfilm, der den Schrecken zunächst anklingen lässt, bevor er im Bild erscheint, und balanciert das Bedrückende dieser Bilder dann, indem Wissams Fantasie über sich hinauswächst. Ein großer Dank an Irit Neidhardt und ihren Verleih mec film dafür, diesen Film in die deutschen Kinos zu bringen.
Quelle taz


Der Morgen vor dem Sturm - von Rüdiger Suchsland in artechock 4.11.2021

In der Hitze eines Sommertags: Regisseur Oualid Mouaness erzählt in 1982 vom letzten Tag des Friedens im Libanon

Immer wieder ziehen Flieger hoch oben über den strahlend hell­blauen Himmel. Man sieht nur ihre Kondensstreifen, man sieht, dass sie sehr schnell sind und dass sie immer in die eine gleiche Richtung fliegen.
Es ist ein einziger Tag, den uns dieser Film zeigt, allerdings ist es nicht irgendein Tag; es ist ein Tag, der alles verändern wird. Der letzte Schultag vor den Sommerferien im Sommer 1982. Der Film zeigt uns ein paar Kinder auf einer noblen Privatschule in Beirut. Man trägt Uniform und singt die Nationalhymne: »Wir alle! Für unser Vaterland, unseren Ruhm und Flagge! Unser Schwert und unsere Schriften...« Der Libanon ist ein französisch geprägtes Land.
Es ist eine in jeder Hinsicht gemischte Klasse, also sowohl Jungen und Mädchen, aber auch verschiedene religiöse, nationale und ethnische Zugehörigkeiten – im Libanon, einem Land, in dem religiöse Identität sehr wichtig ist, ist das keine Selbstverständlichkeit.

Mit wenigen Strichen und Momentaufnahmen skizziert Regisseur Oualid Mouaness einen Mikrokosmos der libanesischen Gesellschaft. Der Filmemacher wiegt seine Zuschauer in der gleichen entspannten Sicherheit und Selbstzufriedenheit wie seine Figuren, die Kamera zeigt uns die umliegende prächtige Landschaft mit Wäldern und Büschen und fängt die Schönheit und den trügerischen, prekären Frieden dieses Landes ein. Der Schulhof wimmelt von Schülern, das Schulgebäude ist selbstbewusst und rational und erscheint dem Betrachter ein wenig wie ein Palast, der mit seinen verblassten, liebevoll an den Wänden angebrachten Landkarten, Schülermalereien und dem Fußballfeld hinter den Fenstern bereits in wenigen Sekunden seltsam vertraut ist, eine Erinnerung an etwas, das wir nie kannten.

Noch überwiegt das Private, Persönliche. Schüler wie Lehrer leben weit entfernt und distanziert von der Politik und dem Konflikt, dessen Grollen schon zu hören ist und der sie alle überrollen wird. Noch dominieren letzte Prüfungen und das Wissen um die nahen Sommerferien.

Im Zentrum steht der etwa elfjährige Wissam. Er ist zum ersten Mal richtig verliebt. Wie seine gleichaltrigen Mitschüler beginnt Wissam die riskante gefahrvolle Kunst des Balzens erst zu lernen. Das Objekt seiner Leidenschaft ist Joana, gleich alt, aber wie die meisten Mädchen in dem Alter reifer und gelassener. Ihre Mutter ist Französin, heißt es, und Wissam kann ihr nicht sagen, wie haltlos er in sie verliebt ist.

Aus dem Radio klingen die ersten Nachrichten. Blutspender werden gesucht. Immer lauter und immer öfter dröhnen Flieger über den Himmel. Am Tag zuvor haben Kämpfe begonnen, aber es ist nicht mehr der Bürgerkrieg, an den sich alle schon lange gewöhnt haben, sondern, das beginnt man erst zu verstehen: Israel hat die Grenze überschritten.

Der Angriff der Israelis am 6.Juni 1982, das war die Operation »Frieden für Galiläa«. Es war ein Tabubruch in jeder Hinsicht: Erstmals griff Israel einen Nachbarn an, führte keinen Vertei­di­gungs­krieg und auch keinen Präventivschlag gegen einen bereits feststehenden Angriff.

Der Schrecken über dieses Ereignis und die Ahnung kommender, noch größerer Schrecken spiegelt sich vor allem im Gesicht der Lehrerin Yasmine, gespielt von Nadine Labaki.

Sie versucht, sich vor den Kindern zurück­zu­halten, keine Angst zu zeigen in der Hoffnung, Ordnung und Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten. Aber ihr Gesicht verrät sie immer wieder und immer öfter. So wird ihre Figur zu einer Metapher für das fragile Gleichgewicht der Situation, in der einerseits das Leben und der Alltag weitergehen, und zugleich nichts so bleibt, wie es ist. Mouaness reflektiert sehr genau die Art und Weise, wie das Leben selbst in Zeiten von Kriegen weitergeht, so kleinlich und albern wie immer. Persönliche Ängste sind nicht weniger wichtig als das allgemeine Chaos.

Dies ist kein nostalgischer Film. Erst zu den Abspann-Credits gestattet sich der Film eine Popsong-Referenz. Regisseur Oualid Mouaness sublimiert in 1982 nicht die Tragödie zum Triumph der Liebe. Sondern er spielt mit unser aller Sehnsucht nach der Kindheit und dem Wissen der Erwachsenen, dass wir alle früher oder später dem Unglück ins Auge sehen müssen. Den verpassten Gelegenheiten, die uns unterlaufen sind. Den verlorenen Welten, in denen wir gelebt haben.

1982 ergreift dabei nicht Partei für die Unschuld der Jugend, aber er übernimmt ihre Perspektive: Fassungslos blicken die Kinder auf die zunehmend surrealere Erwachsenenwelt.
Quelle artechock